- Musikhören: Wahrnehmungsweisen in der Veränderung
- Musikhören: Wahrnehmungsweisen in der VeränderungMit uns selber und mit anderen machen wir immer wieder die Erfahrung, dass jeder Musik von den Hörern bestimmte Erwartungen entgegengebracht werden. Und diese Erwartungen sind mit Vorstellungen und Hörschemata verknüpft, die im Gesamtkontext unserer Lebenserfahrungen und unserer Erfahrungen im Umgang mit künstlerischen Äußerungen verwurzelt sind. Dabei ist es ein eigenartiges Paradoxon musikalischer Wahrnehmung, dass ohne musikalische Kategorien - etwa dem zwölfstufigen Tonsystem, metrischen Gruppierungen oder Klangfarben - die wahrgenommenen akustischen Reize gar nicht strukturiert und eingeordnet werden könnten; dass aber andererseits gehörte Musik als langweilig und steril empfunden wird, wenn sie diesen Kategorien exakt entspricht.Es ist erwiesen, dass beim Musizieren kein Mensch eine physikalisch exakte Zeitverteilung in der Musik realisieren kann, und die Frage ist, wie die Abweichungen von den in der Notation eindeutig festgelegten Proportionen der Tondauern beschaffen sein müssen, dass das Musizieren den Hörer überzeugt und fesselt. Wie kommt es manchmal zu Aufführungen, die lange in Erinnerung bleiben, die die Einmaligkeit des Kunstwerks authentisch vermitteln - Aufführungen, die den Eindruck hervorrufen, dass die Musik gewissermaßen den Notentext transzendiert? Vieles spricht dafür, dass dies wesentlich auch mit der Abwendung von einem Denkmodell zusammenhängt, das unter Künstlern, Zuhörern und Musikwissenschaftlern weit verbreitet ist: der einseitig rationalen Auffassung der musikalischen Zeit. Die Dauer eines musikalischen Vorgangs wird mit jener eines anderen periodischen Ablaufs verglichen. Bei Sequenzerprogrammen auf Computern gibt es die »Humanizer«-Funktion, die jeden Notenwert nach Zufall innerhalb eines definierten Zeitfensters geringfügig verschiebt, um so den Eindruck der rhythmischen Starre zu vermeiden.Doch welche Abweichungen werden vom Hörer tatsächlich als »musikalisch« und »ausdrucksvoll« empfunden? Was ist rhythmische Energie, die keinen regelmäßigen Puls braucht, um vital zu sein? Was sind flüssige Übergänge? Mitunter vermag auch technisches Versagen zu einem integralen Bestandteil von großen Interpretationen zu werden, wobei dies natürlich eine Gratwanderung ist: Warum sind wir so seltsam berührt, wenn es in manchen Horowitz -Aufnahmen von falschen Tönen nur so wimmelt? Oder wenn überragenden Geigern der Bogen nicht reicht? Wenn Maria Callas am Ende eines langen Opernabends eine Todesszene nicht nur mit verlöschender Stimme, sondern auch schlicht unsauber singt? Oder von der Art wie Janis Joplin ihr »Me and Bobby McGee« intoniert? Es sind allesamt Abweichungen von der notierten Ordnung und keineswegs objektivierte »Wiedergabe« von Musik.Es sind die Abweichungen von den vorhandenen Kategorien, das Durchkreuzen eindeutiger Wahrnehmungsprozesse, durch die musikalisch aufregende Interpretationen leben. Und auch im Bereich von Improvisation und Komposition überzeugt vielfach gerade der spannungsvolle Bezug auf etablierte musikalische Schemata. Aus Sicht des französischen Avantgarde-Komponisten Pierre Boulez unterscheidet sich unsere Wahrnehmung von Neuer Musik grundsätzlich von der älterer Musik. Bei jener gründe das Erfassen der Form auf »vor«-gerichteten Hörwinkeln, das heißt die Struktur des Musikstücks ist dem Hörer bereits im vorhinein bewusst; bei der Neuen Musik dagegen haben wir nur »nach«-gerichtete Hörwinkel: »Ich habe also keine Kenntnis der Form, und mein »Hörwinkel« stellt sich erst nachträglich her, wenn die Form vollständig durchlaufen ist.« So sehr hier der Komponist auf das Formhören abhebt: Sicher geht es bei dem »nach«-gerichteten Hörwinkel nicht nur um die Wahrnehmung von musikalischen Formverläufen; ist doch der »nach«-gerichtete Hörwinkel zudem nicht nur »ein« Hörwinkel, sondern es sind verschiedene Perspektiven, aus denen heraus die Musik unseres Jahrhunderts gehört werden kann - Winkelgrade, die unserem Hören aufregend unterschiedliche Perspektiven geben können.Ein Klavierstück wie Adriana Hölszkys »Hörfenster für Franz Liszt« (1986/87) kann rein emotional erlebt werden, indem man sich von dem Virtuosenexzess des Pianisten mitreißen lässt: wie er nicht nur auf den Tasten, sondern auch auf dem Deckel und dem Korpus seines Flügels sowie auf zwei »als Verlängerung« der Klaviatur dienenden Tom-Toms spielt und trommelt, wie er bei seinem Virtuosentum auch die Füße und die Stimme einsetzt. Ein »historisch-bewusstes Hören« erschließt darüber hinaus die Tiefenschichten des Stückes, wird gewahr, in welcher Weise Liszt-Zitate und Bruchstücke aus der Virtuosenliteratur des 19. Jahrhunderts von der Komponistin fragmentiert und verfremdet werden, wie ein Zitat aus Liszts h-Moll-Sonate unterschiedliche Klangschichten wie ein Scharnier verbindet. Ähnlich fordern die vielen Bearbeitungen früherer Musik von Harrison Birtwistle bis Anton Webern als gleichsam komponierte Kommentare das bewusste In-Beziehung-Setzen heraus.Vorhandene und sich dehnende und wandelnde Rezeptionskategorien und Etikettierungen sind von beträchtlichem Einfluss auf die geltenden Hörweisen. Wenn etwa heute ein Komponist als »postmodern« oder als »komplexistisch« eingeordnet wird, wenn sich in den Siebzigerjahren Wolfgang Rihm und andere des Etiketts »Neue Einfachheit« zu erwehren hatten, wenn Edgar Varèse in den Kontext von John Cage und der Zufallsmusik eingeordnet wird: Stets fungieren solche Zuschreibungen als Anschauungsschemata, die Wahrnehmung und Denken lenken.Aufschlussreich ist die Veränderung der Hörperspektiven hinsichtlich der Musik Strawinskys, wenn er durch die Brille unterschiedlicher Kunsttheorien gedeutet und gehört wird. Formeln wie Montage, Verfremdung, Schablonentechnik, Deformation und Parodie gehören zum Verständnis seiner Musik, wenn man sie in den Kontext des russischen Formalismus stellt. Doch sind die Hauptschriften dieser Theorie 1916 in Russland erschienen, als Strawinsky weitab in Frankreich und der Schweiz lebte; und wahrscheinlich hat Strawinsky diese Theorie, die er jedenfalls niemals erwähnt, gar nicht gekannt. Anders ist es mit der Kunstauffassung der Kubisten, denen es bei der Konstruktion von Mehrfachansichten um die Relativierung von Einzelsichten geht. Es handelt sich um eine geistige Totalität, welche die Einzelperpektiven übersteigt. Vergleichbar einem kubistischen Bild ermöglichen die unabhängigen Zeitschichten in »Le sacre du printemps« (1913) keine eindeutige Lesart der Zeitebene. An die Stelle der Analyse von Asymmetrien und Akzentverlagerungen tritt eine mehrschichtige Zeiterfahrung. Übrigens hat Olivier Messiaen das Nebeneinander von verschiedenen Zeitfacetten einmal dadurch anschaulich zu machen versucht, dass er den Jahrtausendzyklus von Sternen oder Bergen mit dem Lebenszyklus einer Eintagsfliege kontrastierte.Die berühmte Eröffnungsmelodie von Strawinskys Skandalstück mit dem Fagott klingt ganz anders, wenn man mit Pierre Boulez rhythmische Zellen unterscheidend wahrzunehmen versucht und den dritten Takt als Krebs, also als rückläufige Organisation des Anfangsrhythmus hört. Oder wenn man - aus der kubistischen Perspektive - die ersten acht Töne bei ihrer Wiederholung in zeitlich verschiedenen Ansichten hört: Nichtsynchronisierte zeitliche Schichten, der gerichtete zeitliche Verlauf ist aufgebrochen.Auf welche Weise Musik von uns Besitz ergreift, ist bis heute nicht geklärt. Wohl aber wissen wir, wie in vielen Fällen bereits die Komponisten durch textlich-musikalische Veränderungen folgenreiche Verschiebungen in den Wahrnehmungen und Interpretationen ihrer Werke in Gang gesetzt haben. Wenn beispielsweise Dmitrij Schostakowitsch schon in der gedruckten und revidierten Fassung seiner Oper »Lady Macbeth des Mtensker Kreises« von seiner ursprünglichen Begeisterung für den wilden ungebändigten Charakter dieser »liebenden, tief empfindenden Frau« 1933 Abstand genommen hat und seine Hauptfigur den Bildungs- und Lebensidealen der tatsächlichen patriarchalisch und gar nicht so unbürgerlichen sozialistischen Gesellschaft seiner Zeit angepasst hat. Und wenn dann in den Achtzigerjahren Ost- und West-Sichtweisen diametral gegenüberstehen: In ostdeutscher Interpretation zielt die Gestalt der Katerina in ihrem »sozialen Protest« auf eine Überwindung der Klassenschranken. Ihr Weg in die Verbannng bringe sie in enge Verbindung mit den progressiven Kräften des unterdrückten Volkes.« Aus West-Sicht hingegen stehe sie, für die Verquickung divergierender Elemente aus Schostakowitschs stilpluralistischem Repertoire. Die geschlossene Persönlichkeit der jeweiligen Figur werde so unkenntlich gemacht. Diese Beispiele zeigen, dass zwar die »reale Gegenwart« von Musik auf uns einströmt, wir uns von ihr berührt und in den Bann gezogen fühlen: Jedoch wissen wir kaum davon, inwieweit die einem gegenwärtige »reale Gegenwart« dieser Musik auch die des Nachbarn ist, inwieweit auch die heute von einem aufgefasste Gegenwärtigkeit die von morgen und übermorgen ist.Prof. Dr. Hartmut Möller
Universal-Lexikon. 2012.